Nimm die Milch!

Das ist eine Geschichte zur Erinnerung.
Die, an die kleinen, oft beschaulichen Welten, aus denen wir Menschen uns manch einmal zu winken.
Sie stehen nebeneinander, gelegentlich, berühren sich aber zufällig. Es scheint, sie existieren parallel.
Wie viele solcher Welten gibt? Kennen wir unser eigen Weltlein? Manchmal glauben wir, fest wie eine Birne, es sei alles eins. Bis wir sanft erinnert werden. In der Begegnung. Auf Hütten, auf Wanderwegen. Dann sortieren wir wieder ein: ach, was sind wir sonderlich! Doch die anderen, sie sind es auch. Ein Hoch auf das prächtige Spiel eines oft heiteren Gottes.


Nimm die Milch!

Heute habe ich jemanden glücklich gemacht.
Aufrichtig und von Herzen.
Und das freut mich immer so. Ich seh` es noch: sein Lächeln zwischen den Backen und das frohe Leuchten in den Augen.

Es war so. Wir waren unterwegs, früh schon heraus aus den Federn und die Kinder an den Müsli-Tisch getrieben. Wir, schnell-schnell alles fertig gemacht, was man auf dem Berg so gebrauchen kann, also erstrangig zu Verspeisendes und dann hurtig in das Auto und hinaus Richtung Alpen.

Wenn wir ankommen, brauchen wir stets ein wenig Gänsehaut und wenn ein Gewitter uns das gerade nicht liefern kann, wählen wir eine Aufstiegsart, die sich imposant absonderlich geriert, weil einsam, und natürlich sehr kurzweilig, weil Stock-und-Stein und rauf-und-runter.

Kann sein, dass irgendwann die Sorge im Raum steht, also, im Walde dann, genau genommen, dass der eine oder andere Baum nicht gar so sehr im Fokus des Försters gestanden hätte und die morschen Hölzer sich nach dem Sturme doch noch dem Boden nähern könnten. Oder auch, dass der Abhang rechts neben dem Tochterfuß ein wenig rasant steil nach unten ragte undsoweiter, aber summa summarum war fest zu stellen: eine gute Dosis Spannung gegen bleierne Langeweile im Gemüte.
Irgendwann dann geschafft. Alle Vier lebendig auf den Hauptweg zurück gekehrt, wo die Wanderer schon herauf stoßen. Aufwärts auf dem Weg zum Gähnen die Füße setzen, einen vor den anderen, die vor Stumpfsinn die Kieselsteine einem vor die Treter werfen, über die man dann beinahe doch noch stolpert, obgleich man zuvor den heldenhaften Aufstieg überlebte.

Und schließlich die nicht missbare, obligatorische Ansage des Oberleiters, des Familienvaters, dass nach dem Passieren der Hütte aber weiter gegangen werden müsse, weil sonst das Bergerlebnis diskreditierend schmal und die Freude minimal.
Dann meine Replik: uns genüge der Aufstieg bis hie, vielen Dank jedoch, ob der Herr nicht einmal wieder alleine steigen möge?

Er mochte. Es quoll mir das Herz über in Freude, denn zu erwarten war hienach ein Mann mit Entspannung im Antlitz, ein Mann der mit dem Ausdruck „schneller“ für die nächsten Momente in Rückstand gehen würde.

Wir drei Verbliebenen verabschiedeten den Mann und Vater und ließen es uns auf einer Bank gut gehen. Entpackten und zerkauten Verschiedenes:
Ein Müsli, das kleine Kind, Kartoffeln, das große, Salat und Kartoffeln und Müsli und Kichererbsen, mariniert und gebacken, ich, sodann die Kinder, Mandeln, Aprikosen, Zwetschgen wir im Wechsel, Kokosflocken, geröstet einer unter uns und Karotten ahnungslos.

Wir saßen ein gutes Stück links auf dem Bänkchen, die Nasen in die Sonne haltend nämlich, welche nur dort zu kassieren, wie Salamander es zu tun pflegen, dem kalten Blute wegen und warfen Kerne und Stummel der Pflanzen weit ins Gebüsch. Baumelten mit den Füßen und aßen und pfiffen und begannen irgendwann mit der guten Tier-Pantomime, einem Spiel zeitloser Eleganz. Auf dem Weg vor der Bank bereits, weil das Hopsen, das Rennen, das Quaken und Quieken nach Raum verlangte, welchen die Bank nicht geben konnte.

Wie es der Zufall verlangte, biss jemand unter uns einen Moment in eine Karotte, als wieder Wanderer von unten unser Kleinod passierten.
Wir hörten sie schon lärmen und rufen, „a geibe Rübn!“ und betrachteten die Leute, sodann unsere Karotten und fuhren fort mit unserem Sein dort in der milden Kälte eines frühen Septembertages.

Zwischen dem Kauen und dem Rufen vernahm ich unwillkürlich Fragmente einer Unterhaltung. Es drehte sich um diese gelben Stängel, die Hasen, gelegentlich, und wir hier verzehrten.
Nicht weiter konnte ich mich mit dem Gemüse aufhalten, denn mimte bereits einen ausnahmslos gelungenen Braunbären, der, oh Überraschung!, als Erdmännchen ausgemacht wurde. Nichts für Ungut! Ich für meinen Teil erkannte mit Bravur alle Ponies, Babyaffen und Einhörner im ersten Durchgang. Stolz war ich, die Kinder lustig und so verging die Zeit.

Der Vater, ohne Uhr, ohne Mobil-Gerät, sollte, dem Gefühle nach, dem reinen, eine Stunde später wieder hier sein, beziehungsweise an der Hütte, wenige Höhenmeter von uns entfernt. Das war sehr gut möglich, weil der Mann die Berge hoch zu rennen pflegte, eine alte Marotte von ihm, die ihn glücklich macht im Herzen. Einzig seine Schwäche, sich in der mitteleuropäischen Zeitzone unserer Vertikalen zurecht zu fühlen, beunruhigte mich. Ich vertraute nun aber auf seine überirdischen Fähigkeiten.
Als ich auf die Uhr blickte, um mir ein Bild vom Verlaufe der Zeit zu verschaffen, stellte ich das unweigerliche Vorrücken der Zeiger fest; und dass wir hurtig die Hütte erreichen sollten. Schon, um in erster Linie dort anzukommen, bevor der Vater sie im Herunterlauf wieder passiert hätte und durch mögliches Abkürzen-Wollen erst gar nicht uns auf der Bank, sondern gleich das Auto im Tale, in Einsamkeit, aber, erreichen würde.

So sattelten wir uns Pferde, warfen alle Rucksäcke über und wanderten in bester Laune diese letzten Meter zur Hütte hinauf.
Da war er schon! Dieser Mann des Gipfels, Ehegatte und Vater, stand geschwinder, als im Augenwinkel auszumachen, plötzlich vor uns und sah sehr rot aus, aber dabei entspannt, wie ich ihn mir ausgemalt hatte, beim Verschicken. Er erzählte, und berichtete, wie wir das nächste Mal unbedingt und alternativlos diesen Wipfel gemeinsam zu besteigen hätten; von den sehr langsamen Menschen, welche er in hohem Gange links überholt hatte und dem Herab-Rennen mit gealterten Beinen. Trotz allem, welch hervorragende Entscheidung dieses Tages!, ihn nach oben zu versenden. Er sparte an Worten der Anfeuerung in jeglicher Lebenslage und blickte wonnig und gleichsam satt aus seinen großen Augen.

Wir betraten die Hütte, diese freundliche, kleine, generatorbetriebene Hütte unter einigen Tannen mit Ausblick auf die tiefen Wälder unter ihr und dem Raum, in dem Selbstbedienung herrschte.
Ich hatte in kurzen Absprachen das Budget und die bedingungslos zu ordernden Speisen eruiert und stand sprechbereit am Tresen.

Da stand ein frischer, froher Mann vor mir und verlangte nach dem Auftrage. Weil ich es leicht machen wollte – den Einstieg in unsere Begegnung wie die Auftragsbewältigung im Ganzen, begann ich mit dem Getränk für unseren Rudelführer.
Mutigen Augen dem Verderb durch Übersäuerung trotzend, verlangte er nach einer Spezi, dem traditionellen Süßgetränk mit Cola-Anteil, welche ich für ihn bestellte und sah, wie der Mann hinter dem Tresen verständig nickte.

Gut, das war durch, keine Aufregung, alles im Kasten.
Und dann wollte ich es uns wieder leicht machen.
Bloß ein klitzekleines Anliegen hatte ich und trug es vor:

Ob Kakaopulver vorrätig auf dieser Hütte.
„Freilich.“ Ein freundliches Nicken. Der Mann im Ganzen, zugewandt mit jeder Locke.
Ob es denn möglich, dieses mit Wasser anzurühren.
Der Mann erstrahlte. Er lachte. Lachte ein freundliches, dabei jedoch gigantisches Lachen. Alles in ihm war erfüllt von dieser himmlischen Freude.
„Jaa!“

Ich nickte. Sehr gut. Das hätte ich gerne.
Jaa!
Ich war noch nicht sicher, wie die Sache ausginge, wegen dieses übergroßen Freuens im Gesicht und fragte vorsichtig weiter.
Ob sie den Kakao selbst anrührten, quasi, richtiges Kakaopulver.
Jaa, freilich.
Die Freude hielt an.

Ich nickte, wieder, alles wunderbar.
Gut. Dann würde es mir große Freude meinerseits bereiten, wenn der Zucker weg gelassen, einfach, heraus genommen, aus dem Mischvorgange, wenn denn möglich.

Ohne Zucker?
Freude!, nichts als Freude, im Gesicht des Mannes eines mittleren Alters.

Ich, meinerseits, war sehr froh über diese Freude. Er war immerhin bereits der zweite Mann, der schlichtweg besser aussah, nachdem ich in Aktion getreten war.

Aber, jetzt klärte sich etwas, nein, nein, selber mischen täten sie nicht. Das sei ja ein fertiges „Kakao“-Pulver.
Alles in bester Ordnung, tun Sie sich keinen Zwang an, wir würden es auch bapperl-süß nehmen, freilich. Auf einer Hütte!, winkte leutselig ab.
Er nickt zustimmend.
Dann bitte zwei davon.
Der Mann verschwand in der Küche. Verkündete dieses.
Dort, hinter dem Tresen, in der gekachelten Hüttenküche wirkte dies mit einem Schlag. Alle Zubereitenden bekamen gute Laune, ich sah sie sich freuen und sah sie das Lachen lachen. War das nicht großartig?

Er erschien wieder vor mir. Ohne Sahne, geeell?
Ja, ganz genau.
Er gab das durch.

Ich bestellte weiter: „zwei Kuchen: Zwetschgenkuchen (richtig aufgemerkt, schon wieder: Zwetschgenzeit.) und Karottenkuchen.“ Aus dem Mann hinter dem Tresen kullerte es jetzt.
„KAROTTENKUCHEN?“
Ein Teil seiner Person sah aus, als verlangte sie, sich beherzt auf den Boden zu werfen. Die Hände trommelnder Art. Den Bauch wälzend, von Seite zu Seite.

Ja, genau. So meine ich das.
Ich bekräftigte meine Bestellung zugewandt.

Er atmete einen Seufzer aus der Tiefe seiner Kehle, schniefte vorsichtig in die Nase: Hamma des wirklich?
Und das war dann schon gelacht aus vollem Halse, jetzt war ein Halten zehrend.

Ich deutete auf die Karte:
Da steht es, pardon, ich habe leicht modifiziert: Karottenschnitte.
So ein Wort kommt mir nicht leicht über die Lippen. Hat vielleicht jeder – Worte, die einfach nicht gut gehen. Zu viel Gänsehaut, zu viel Scham vom Nacken her.
Er also wieder in die Küche. Kam wieder.
Aus seinem Hemdchen quoll lustig ein wenig von seinem Blutschwamm. Es schien, als grölte es bereits herzerquickt, während er noch fest an sich hielt.
Konnte dann aber nicht nichts sagen, es zerriß ihn schier:
Sogns, ham sie a Problem mit der Laktose? Oda wia?

Ich lächelte. Gerade aus, in seine offenen Augen.
Ja, vielleicht das. Wir kriegen alle Bauchweg von der Milch aus der Kuh.
Wirklich?
Er konnte es nicht fassen. Jetzt mischte sich Mitleid in die Melange. Mitleid macht komisch, trifft sie auf Lachen von tief unten.
Was dern s`n dann?
Ich meinte, es mache Sinn, hier abzukürzen, nannte nur das:
Oh, wir trinken einfach Reismilch.
Er verzog das Gesicht nach einer Seite.
Ich beruhigte flink, doch, das sei wohlschmeckend.
Wollte die Milch aus der Kuh nicht brüskieren, Gott bewahre die Kuh!, ging also nicht ein, auf den Geschmacke der Milch, der aus dem Euter. Weiß ist eine schöne Farbe!

Es schüttelte ihn.
Oder Kokosmilch.

Warf doch etwas hinterher, konnte sein Mitleid nicht schauen.
Naaaa!
Ich schaute fragend.
Des ess i nimmer.
Was denn, bitte? Dachte an die Kokosmilch. Dass er davon einst gegessen hätte.
Kokosnuss. Koa Stickerl mehr.
Wirklich wahr? Wie kommt das? Zu viel davon gehabt in ungünstigem Momente?
Ja, von de Bounty.
Ich verstand. Nickte deshalb. So etwas passiert.
Leider. Kenne Menschen, deren Speiseplan erheblich reduziert ist durch solche Umstände. `Immer maßvoll essen`, meine ich, sagte das aber nicht, weil das dröge ist und keiner es hören will.

„Ned a moi an Joghurt?“, fragte er weiter, langsam besorgt um mich.
„M-m“. Schüttelte den Kopf.
Berichtete nicht von all den Dingen in unserem Kühlschrank, fermentiert oder auch nicht, die die Sache wirklich nicht schlimm machen.

Er brachte die Schokoladen.
Jetzt hoff i, dass des schmeckt – und lachte jetzt aus dem Bauch heraus.
Ich freute mich über seine wieder gefundene Laune.
Zu viel Sorge um den Mitmenschen verdirbt den Appetit.
Bedankte mich und nahm die Tassen mit hinaus, Richtung Wald.

Wir tranken. Gleich schon wurden alle Kinder am Tisch ein wenig wild und roh, weil die Melasse und das Zuckerrohr einfach unbestechlich, und wir erachteten es als das Beste, das Weite zu suchen. Wir ließen die Kinder von den Halftern woraufhin sie schnaubend davon trabten.

Als ich das Geschirr zurück brachte, stand da schon der nette Mann mit dem lustigen Gesicht.

„Und? Wia war`s?“, platzte es aus ihm heraus.
Ich bedankte mich. „Ausgezeichnet, wirklich wahr!“
Er lachte, dass die Häärchen flogen und durch schüttelte es ihn, bis er munter war, bis in die Spitzen seiner Zehen.

Wir packten uns zusammen, gingen Richtung Gatter, durchschritten es und freuten uns gerade über den gottfrohen Wirt oben, da hörten wir schon Wanderer, wie sie kamen, sahen, wie sie deuteten, auf uns nämlich.
Sie erkannten uns offenbar wieder, wir blickten sie an, gespannt, was nun käme.

„Des san die mit de Karotten!“,

schrie es aus ihnen und ein Lachen flog aus ihren Mündern, umgab uns, kam uns schon entgegen bald von allen Seiten, den Wänden, den Felsen, dem Oben und dem Unten – alles schallte Karotte und Karotte. Als das letzte Echo uns erreichte, waren wir bereits wieder im Tal, rieben uns die Ohren und fuhren nach Hause, mit nichts im Kopf als gelben Wurzeln und aßen sie dort alle auf mit einem Mal, ratzeputz, bis es keine mehr gab.

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© 2017 Lisa Marie Binder-Raupenstrauch
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