Bereit zum Sterben

Erlebnisbericht. Nicht lustig.

Gerade ist etwas geschehen. Ich war im Begriff, meiner Tochter Mut zuzusprechen für Ihren Alleingang zur Musikschule, als es Wumms machte. Rasch warf ich den Küchenlappen auf etwas verschüttetes Wasser, um das lästiglich empfindliche Holz zu schonen und huschte dann flink zur Terrassentür. Wie dem Ton nach zu schließen, war ein Vogel gegen unser Fenster gestoßen. Sehr heftig, sehr unglücklich.

Es handelte sich um eine zarte, vielleicht noch junge Amselfrau. Meine Tochter war bestürzt, schnell, ich solle etwas tun. So sprang ich zum Arzneikoffer, suchte Aconit, den Sturmhut heraus und begann, es in einem Wasserglas aufzulösen. Damit stieg ich hinaus in die Hitze, neben dem Tier in Schock.

Zunächst hatte ich meine mir mitgelieferte Scheu vor Vögeln zu bezwingen, doch wie leicht ging es! Hockte mich vorsichtig auf meine Hacken, hinunter zum Vögelchen.

Es wand sich zunächst noch, versuchte, seine Flügel zu schwingen, doch wollte es ihm nicht gelingen. So schmiss es sich beherzt auf seinen Rücken, zuckte einen Moment und streckte sodann die Beinchen von sich, hoch hinaus über seinen blassen Schnabel.

Ein Anblick von Dramatik – auf der einen Seite. Doch überkam mich das verwegene Gefühl, der Vogel hatte sein Ende hier in Schlichtheit beschlossen. Befand den Moment als den richtigen für seinen Abtritt. Ich, für meinen Teil konnte dem just nicht zustimmen.

Rasch, noch bevor die heilbringenden Kügelchen alle aufgelöst waren, welche mir in überzähliger Menge ins Glas gerutscht waren, vor lauter Bestürzung, beim Mittel selbst, in meiner Person und der Eile allerseits, flößte ich dem Vögelchen mit dem Löffel einen Teil der Lösung in den Schnabel. Dann folgendes Schauspiel: Mit einem rasanten Ruck drehte es sich herum, kam auf seinen Füßchen zu stehen. Hoppla. Das ging erhebend leichtfüßig.

Ich kam nicht umhin, festzustellen: hier hatten wir es mit einem fulminanten Gedanken von Ableben zu tun. Ein Gedanke, verdichtet zur Leitidee: jetzt!, Sterben. Der Sturmhut in Hochpotenz keine Sekunde im Schnabel, schon in die Senkrechte: der Vogel hatte es sich schlichtweg anders überlegt. Mit mir war hier an den Tod nicht zu denken!

So konstatierte ich überdies: Nicht der Tod seinerseits veranstaltete hier ein besitzergreifendes Brimborium. Die Idee vom Sensemann, sie hatte sich ausgesenst. Der Vogel in seiner erbarmungswürdigen Lage, nach dem Flug, kopfüber an die Scheibe, sah es als ein leichteres, hinüber zu gehen. Das Besinnen, das Gelassen bleiben, auf dieser Erde, war die mühsamere Variante. Doch ein Entscheiden war – ganz offensichtlich – möglich.

So saßen wir da. Jeder mit seinen Gedanken. In meiner ganzen Breite hockte ich vor dem Vogel, um ihm Schatten zu spenden. Die Sonne an dieser Hausseite brannte herunter, als müsse sie Mexikos Breiten alle Ehre machen. Ich sehnte mich ganz meinerseits nach einem Hut, um unter ihm zu verschwinden.

Schaffte zunächst eine Gießkanne heran, die mich in meiner ehrenwerten Funktion als Schirm ersetzen sollte. Dann ein rotes, schwammiges Gummitier, aus dem Gartenspielzeugbestand der Jungtochter. Dieses war von ausreichender Gestalt. Der Vogel versank im Schatten.

Da die Vogeldame den Schnabel weit geöffnet hatte und ihr Herz jetzt davon galoppierte, holte ich geschwind einen weiteren Becher mit Leitungswasser. Wollte annehmen, sie leide unter akuter System-Überhitzung und sei vielleicht deshalb a priori in unsere Scheibe gedüst.

Dieses Wasser versuchte ich wiederum, ihr einzuflößen. Der Schnabel: klappte zu. Bemerkenswert. Ich wartete einen guten Moment, mich wohl erinnernd, an eine alte Tierarztweisheit, die da sagte: je kleiner der Patient, umso höher hatte die Verschreibung zu erfolgen. Hier saß vor mir in concreto ein gar kleines Wesen. So versuchte ich es wieder mit der Lösung von Aconit. Bereitwillig sperrte das Vögelchen den Schnabel auf.

Bereits die hauseigenen Meerschweinchen possierlicher Manier hatten mich seinerzeit bei den Hörnern gepackt: das Gespür für die rechte Medizin war bei den vermeintlich unvernünftigen Geschöpfen unverbesserlich. Mit überschwänglicher Feierlichkeit an medizinischem Gehabe verfuhr man sich ins eigene Drama.

Nun auch das wilde Vögelchen! Es benötigte keinen Kurierhinweis. Zumindest nicht nach seiner, freundlicherweise reversiblen, Entscheidung, den Löffel abzugeben. Ein: „Frau Amsel, was Sie erfasste, nennt sich eine schwerwiegende commotio cerebri und die Aussichten sind nicht zu bemessen“, war hinfällig.

Die Dame geriet immer stabiler. Zu gerne wollte ich diese Entwicklung unterstützen. Aufmunternd sprach ich zu ihr, geflissentlich darauf achtend, mich in meinem mir immanenten Menschsein per se nicht zu brachial zu gerieren. Machte mich vogelschmal an der Hauswand, tarnte mich mit spitzem Lächeln.

Sie würde „sich jetzt von ihrem Schock erholen, solle ruhig Kraft tanken“ und werde dann gehen können. Mantraartig beruhigte ich uns beide. In kürzesten Abständen: Wiederholung der Einflößungsparade.

Mit einem Mal verschlechterte sich die Lage. Und, oh, sie taumelte, der Mund weiter auf, das Herz geschwinder. Ich versuchte es wieder mit Wasser aus dem Mangfalltal – sie klappte den Schnabel zu. Das Mittel auf dem Löffel: wieder auf. Der Zweifel machte sich nun breit, langsam und düster. Ich rang innerlich um die Notwendigkeit eines Sanitäters.

Unwohl war mir bei dem Gedanken, nicht weiter beunruhigen wollte ich das Federtier, es meinen Griffeln aussetzen, laut schreien, wenn sein Schnabel mir zu nahe…, davon fahren, auf dem Fahrrad so schunkelig, dem Auto so unflätig, sodann die Dame schaurigen Untersuchungen aussetzen, mittels sperriger Werkzeuge.

Besann mich also und versprach dem Vogel, als nächsten Schritt im Protokoll den Bergwohlverleih anzurühren, die Substanz einer robusten Alpenblume. Indiziert a priori bei Prellung und Verstauchung. Der akute Sturzflug den Schnabel voraus im mindesten umfasst. Ging hinein, prüfte meinen Mittelbestand.

Beim Hinausblicken aus dem Fenster dann, sah ich, wie es mit einem Mal lichter wurde, im Vögelchenkopf. Seine Umgebung erblickend, jetzt aber, in voller Gänze, huschte ein Schrecken über sein Antlitz. Der Vogel wurde sich gewahr, dass er sich in eine Katastrophe verstrickt haben könnte – er, ganz als Vogel, neben mir. Was auch immer es war, was ihn bewog, er entschied sich für Kulanz in der Sache und verblieb für einen weiteren Schluck.

Wieder draußen sprach ich die Vogelfrau in meiner softesten aller Stimmen an, versicherte, dass alles gut würde und sie fliegen könne, wenn sie sich nur erholt habe. Noch ein Schluck Sturmhut in den Schnabel. Sie blickte schon alerter. Was hervorragend war, auf der einen Seite. Wollte mir jedoch nicht ausmalen, was tun, wenn dieser Schnabel, der spitze, in meine Richtung hub, jetzt, wo ich auf einmal schiefe Gedanken in ihr Oberstübchen einziehen sah, mit Pauke und mit Tücke.

Der Vogel im Geiste: nun wieder ganz präsent. Richtete sich auf, noch etwas schräg im Gestell, hopste Richtung Hecke. Ich pflichtete ihm bei, „ganz großartig, weiter so!“, als wenn er mein Fleisch wäre, mein Blut – die ersten Hopser nach dem Durchstoßen der Ei-Schale. Wenn es ginge, solle er ruhig gehen. Dann blieb er hängen, kugelte über die Meerschweinchenganganlage. Ich wies ihm den Weg, er schaffte es darüber.

Blieb vor der Hecke sitzen und schaute zu mir. Ich blickte zurück. Hüpfte dann durch. Dort saß er.

Hörte mich jetzt rufen: „Komm ruhig zurück, jederzeit!“

Er blieb sitzen. Ich ging hinein, wollte ihm Raum lassen, ihn nicht bedrängen durch vermeintliche Schuldigkeit. Dann hörte ich es rascheln. Die Vogeldame schlug mit den Federn. Ich: hinaus. Dort saß sie, erstaunlich rösch, erstaunlich keck. Die Federn so aufgeweckt und an der richtigen Stelle. Ich spürte eine Träne nach außen drängen.

Ich sah ihr zu, wie sie hopste, über den Weg in Richtung großer Wiese. Ganz kräftig und behände schon. Drüben blieb sie sitzen, blickte zurück.

Ich rief, sie könne jetzt fliegen. Alles würde gut!

Noch nicht ganz. Ein Blick noch einmal zurück, dann der Abgang. Verschwand in der Hecke. Ich war entlassen. Schlüpfte aus dem weißen Kittel.

Vögelchen, Du. Wohl überlegt sei, was du denken magst. Sterben kannst du freimütig. Doch vorher lohnt sich das Leben gelegentlich. Ich denke an dich.

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© 2017 Lisa Marie Binder-Raupenstrauch
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